Das Rote Wien & Mister Pim's Trip to Europe
Frank Ward Rossak | AT 1930 | 120 min | DFBuchpräsentation & Film
Der Architekturhistoriker Helmut Weihsmann präsentiert zum 100-Jahre Jubiläum der sozialistischen Wohnungspolitik in Wien die Neuauflage seines Standardwerks DAS ROTE WIEN. Dazu zeigen wir den semi-dokumentarischen Lehrfilm MISTER PIM’S TRIP TO EUROPE von Francis Ward Rossak (1929/30) – beauftragt von der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiter Partei) um Bilanz über die sozialistische Reformpolitik des „Roten Wien“ zu ziehen und polemisch gegen den Kapitalismus zu agitieren.
Zum Buch: DAS ROTE WIEN (Promedia Verlag)
(Filminfo weiter unten)
In der dritten Aktualisierung und vollständig überarbeiten Fassung dieses 1985 erstmalig erschienen Standardwerkes begibt sich Autor Helmut Weihsmann auf die Spur des „Roten Wien“ bzw. „Neuen Wiens“ wie man das Reform- und Bauprogramm der Ersten Republik seinerzeit die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) selbst bezeichnet hatte, und zeigt dessen historische Bedeutung ebenso wie die herausragenden Leistungen des „Gemeindesozialismus“ der Zwischenkriegszeit auf. Sozialdemokratische Architektur, Städtebau und Kommunalpolitik des „Roten Wien“ veränderten schlagartig die ehemalige Reichshauptstadt der k.k Monarchie. Noch heute bezeugen die Gemeindebauten der Wohnhöfe wie Superblocks diese Ära. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden die Steine für uns sprechen“ – mit diesen pathetischen Worten eröffnete Bürgermeister Karl Seitz im Jahr 1933 den letzten Bauabschnitt des „Karl-Marx-Hofes“ in Heiligenstadt, ein Ikone des „Roten Wien“, der zum Sinnbild zum urban verdichteten „Superblock“ (Manfredo Tafuri) wurde. Jahrzehntelang hatte die kanonisierte Architekturmoderne die Wiener Gemeindebauten aufgrund seiner traditionellen, rückschrittlichen Formensprache und monumentalen Pathos kritisiert und polemisiert. Doch zu Recht gilt das reformistische Sozial- und Wohnbauprogramm der Roten für ihre Zeit als revolutionär und fortschrittlich in seiner Gesinnung. Die damalige Sozialdemokratie war am Puls der Zeit. Die Funktionäre der SDAP fühlten sich als Avantgarde, von bildungsbürgerlicher Herkunft, Bildung und Schicksal begünstigt, entwickelte sich eine neue Gründerzeit, deren Ziel daran bestand, durch Schaffung besserer Lebensbedingungen, gleicher Bildungschancen und höheren Wohnstandard für die ärmeren Einkommensschichten zu ermöglichen. Besonders das Wohnbauprogramm, die durch eine progressive Besteuerung von Luxusgütern finanziert wurde, war einzigartig und prägte die Gestalt und Struktur sowie die Stimmung der Stadt de facto bis heute. Schon seit längerem wird das „Rote Wien“ von der Stadtverwaltung Wiens als sog. „Trademark“ gepriesen und (kultur-) politisch als große Utopie vermarktet. Den Slogan, mit dem man in einer städtischen Werbekampagne 1980 den „Karl-Marx-Hof“ hat die museale Bezeichnung „ein Kilometer Art déco“ nicht verdient. Viel eher sollte man ihn als heldenhafte „Bollwerk gegen den Austro-Faschismus“ bezeichnen, wurde er im Bürgerkrieg von Kanonen und Maschinengewehrfeuer beschossen.
In der Retrospektive des Phänomens „Das Rote Wien“ wird in anschaulicher Weise über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses utopische Projekt reflektiert und rekapituliert, nicht ohne kritisch zu hinterfragen, an was das Modell gescheitert ist was davon noch heute geblieben ist. Angesichts der weltweiten Krise und gegenwärtigen Schwanengesänge in Wirtschaft und Gesellschaft, die derzeit allenthalben angestimmt werden, droht eine unbestreitbare Tatsache jedoch in Vergessenheit zu geraten. Bis zum heutigen Tag bezeugen die Bauten und Infrastruktur Wiens aus Schulen, Kindergärten, Kinderfreibäder, Schwimmbädern, Sportstadien, Kliniken, Ambulatorien, Apotheken, Postämtern, Arbeiterbibliotheken, Arbeiterheime, Volkshochschulen, Kinobauten, Volksküchen, Waschstuben und anderen Sozialeinrichtungen von der glorreichen Zeit des „Roten Wiens“ anhand der städtischen Topographie und bauliche Manifeste des „Roten Wien“ wie die großen Höfe („Superblocks“). Die vielen Kleinwohnung hinter den mächtigen Prachtfassaden wurden schon von Zeitgenossen getadelt als zu klein (Standardgrößen waren 21 qm, 40 qm, 49 qm, 57 qm) und außerdem mangelhaft (ohne Badezimmer) ausgestattet. Auch die Wohnungsgrundrisse wurden von internationalen Experten kritisiert. „Die Gemeindehäuser“ ätzte Adolf Loos, „sind gebaut worden, um den Parteigeist zu züchten. Man pfercht die Menschen zusammen, damit sie für die Partei (SPAD, Anmk.) wählen. Bollwerke oder „Rote Burgen“ nannte die gegnerische Propaganda die monumentalen Superblöcke in den Vorstädten Heiligenstadt, Sandleiten, Margaretengürtel, Brigittenau und Floridsdorf in Transdanubium mit ihrer palastartigen Fassaden, Einfahrtstore und Portici. Doch die Rathausbürokratie im Wiener Stadtbauamt baute auch anders wie die klein-maßstäblich und niedrigen Siedlungshäuser und Gartenstädte am Stadtrand im Weichbild der Vorstädte Hietzing, Döbling, Liesing, Kagran, Donaustadt, etc. wie die „Hermeswiese“ und „Lockerwiese“. Auch prononcierte Gegner der Wiener Wohnhochhäuser wie Adolf Loos, Josef Frank und andere Vertreter der Wiener Moderne wie Grete Schütte-Lihotzky, Karl Dirnhuber, Clemens Holzmeister, Franz Schuster hinterließen ihre Spuren im Wiener Gemeindebau. Sowohl die Sozialdemokratie als auch ihr urbanes Modell des „Rote Wien“ ist in die Jahre gekommen und hat schon bessere, geradezu glorreiche Zeiten erlebt. In Zeiten zunehmender Ideologiekritik ist ein Paradigmawechsel innerhalb der Architekturtheorie eingetreten, die die semantischen Qualitäten der Formensprache der „Wiener Höfe“ neu deuten. Die großen wie kleinen Bauten des „Roten Wien“ werden wieder im großen Stil von zeitgenössischen Historikern lobgepriesen.
Die Buchpräsentation mit der Vorführung des seltenen abendfüllenden Archivfilms „Mr. Pim’s Trip to Europe“ aus dem Jahr 1929/30 vom Regisseur Francis Ward Rossak bietet zu einem einen historischen Rückblick, zum anderen die Neudeutung und Ästhetisierung der Lebenswelten, des Alltags und der Kommunalpolitik des Austromarxismus im kontextuellen Bezug zwischen austro-marxistische Theorie und Wiener Schule.
Filminfo: MISTER PIM’S TRIP TO EUROPE
Francis Ward Rossak | AT 1929/30 | 66 min | SW/stumm | digital
Der interessante semi-dokumentarische Propagandafilm bzw. Lehrfilm der Wiener Kinogesellschaft KIBA wurde im Auftrag der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiter Partei) aus Anlass der letzten freien Nationalratswahl am 9. November 1930 in der Ersten Republik hergestellt um Bilanz über die sozialistische Reformpolitik des „Roten Wien“ zu ziehen, wobei die Polemik in Verbindung mit der Ideologiekritik am Kapitalismus stark am Vorbild von Lew Kuleschows klassische Filmsatire „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ von 1923/24 erinnerte und gewiss stark beeinflußt hatte. Auch der Protagonist Mr. West hat gewissermaßen die selben Charakterzüge wie Mr. Pim, einen vom Kapitalismus, Liberalismus und von der freien Marktwirtschaft felsenfest überzeugter Apologeten. In seiner dogmatischen Agitationsweise aus dokumentarischen Archivmaterial nimmt MISTER PIM ein Spektrum an sozialrevolutionären Strömungen auf, die auch andere zeitgleiche kommunistische Filme in der Sowjetunion infiziert haben.
Bemerkenswert ist dabei wie man russische Montagetheorien für österreichische Zwecke verwendet und umgepolt hatte. Der Weg zur filmischen Rede ist für den Regisseur Rossak gleichzeitig ein Weg zu einem realistischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Zum Inhalt: Der amerikanische Zeitungsjournalist Mister Elias Pim reist als Herausgeber des Springfield „New Chronicle“ ins Rote Wien um sich selber ein Bild vom „Sozialismus in Aktion“ zu machen, wobei er zunächst mit Vorurteilen und Klischees behaftet, geschürt durch die kapitalistische Presse, in das Land seiner bösen Ahnungen landet. Er kündigt in einem Artikel Originalberichte aus einer Stadt an, die dem Untergang geweiht ist. In Begleitung seiner modern aufgeschlossenen Tochter (Typus eines emanzipierten „flapper girl“), die in Wien lebt und als engagierte Volksschullehrerin arbeitet, besucht Mr. Pim zunächst die Bildungs- und Sozialeinrichtungen des „Neuen Wiens“. Ohne Wissen ihres Vaters hat seine Tochter sich in den jungen Sozialisten und Aktivisten Dr. Georg Weigl verlobt. Als ihr Vater davon erfährt und noch dazu von dessen politischen Engagement überrascht wird, ist er energisch gegen die Verbindung seiner Tochter mit ihm. Im Zuge seiner Recherchen besucht Mr. Pim den (übrigens jüdischen) Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, einem Demagogen der alten Schule und eingefleischten Gegner des Gemeindesozialismus, von dessen reaktionären Gesinnung und Anschauungen er sich zunächst stark beeinflussen läßt. Von dessen Schilderungen bekommt der Amerikaner ein ganz verfälschtes Bild von Arbeit und Leistung der Sozialdemokraten im Roten Wien, die er in sein Notizbuch – der Film hieß ursprünglich „Das Notizbuch des Mr. Pim“ – einträgt. Die Hartnäckigkeit, mit der der junge Mann ihrem Vater nun das Gegenteil dessen was die konservative Presse behauptet beweisen möchte, überzeugt den wert konservativen Besucher schlußendlich doch noch. Im Zuge einer größeren Stadtrundfahrt zu den vielen Baustellen der neu errichteten kommunalen Bauten, Gemeindeanlagen, Volksbädern, Schulen, Kindergärten, Kinderfreibädern, und Freizeiteinrichtungen lernt Mr. Pim die wahren und schönen Seiten des Roten Wien kennen. Katalogartig wird durch die Montagetechniken eines Aufklärungsfilms der Bogen des austro-marxistischen Reformprogramms vom Sehen zum Verstehen gespannt. Daraufhin bejaht der anfangs skeptische Mr. Pim nicht nur die Errungenschaften des sozialdemokratischen Stadtregierung, sondern auch billigt die Verbindung seiner Tochter mikt dem jungen Verlobten. Die Aufgabe des ebenso überzeugten Filmzuschauers ist nun das positionieren eines Kreuzes für die SDAP auf dem Wahlzettel. Die Lesart des Films „Wählt vernünftig … wählt die Sozialdemokratie“ hat seinen Zweck erfüllt. (Texte: Helmut Weihsmann)
Eintritt 9 € (Film + Buchpräsentation)
Danke an das Archiv der Geschichte der Arbeiterbewegung für die Filmkopie.